Lippische Rose

 Auswanderung Lippe-USA 

Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V.

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Wittenborgs aus Lippe als Ärzte und Professoren in Memphis und Harvard

Friedrich Schütte

Der Lipper August Hermsmeier-Wittenborg (1883-1941) hat es in den USA bis zum Professor und Dekan der University of Memphis, Tennessee gebracht. Dessen 1914 geborener Sohn Martin schaffte als Mediziner sogar den Sprung auf einen Lehrstuhl für Radiologie an Amerikas ältester und bis heute berühmtester Universität von Harvard, Boston. Vater und Sohn Wittenborg. wie sich der Stamm Hermsmeier-Wittenborg seit der Einwanderung in die USA ab 1905 nennt, haben als Forscher und Lehrer von Generationen ärztlichen Nachwuchses auf ihrem Fachgebiet ein bedeutendes Kapitel US-Medizingeschichte im 20. Jahrhundert geschrieben.

Ursprung der in Übersee berühmt gewordenen Ärztefamilie Wittenborg ist das lippische Dorf Matorf bei Lemgo. Hier, auf einem 30 Hektar großen Bauernhof, kam der Stammvater aller amerikanischen Wittenborgs im Jahre 1883 als August Hermsmeier-Wittenborg zur Welt.
Der Vater und Hoferbe wandte sich, statt der Landwirtschaft, dem Kaufmannsberufe zu und zog deswegen nach Hannover. Sein ererbter Hof wurde an Nachbarn verpachtet. So wuchs Hermsmeier-Wittenborg junior in einer Großstadt auf, ohne jedoch die Verbindung zu den Verwandten und zum viele Jahrhunderte alten Stammhof der Sippe in Matorf jemals aufzugeben.
Ob August Hermsmeier-Wittenborg junior keine Lust hatte, Soldat zu werden oder was ihn sonst bewogen haben könnte, in die Fremde zu gehen, ist nicht bekannt. Jedenfalls schloss sich der junge Mann 1905 seinem Onkel Martin Wittenborg bei dessen Auswanderung nach Amerika an. Ziel der beiden war der US-Bundesstaat Tennessee.
Martin Wittenborg muss nicht nur einiges Geld mitgenommen, sondern auch eine besonders enge Verbindung zu seinem Neffen gehabt haben, was nach der Ankunft in Übersee zu einer Adoption führte. Danach erlaubte Wittenborg seinem Adoptivsohn, an der University of Memphis Medizin zu studieren. Genau dies war bereits in Deutschland der sehnliche Wunsch des jungen Mannes aus Lippe bzw. Hannover gewesen.
Schon bald nach dem Grundstudium spezialisierte sich der heranwachsende Arzt auf das Fach Anatomie. Mit der englischen Sprache hatte er nie ein Problem. Mitschüler berichteten später in einer Festschrift auf ihren verehrten Mentor: „Wittenborg war im Englischen besser als wir geborenen Amerikaner!"
August Wittenborg schloss sein Studium einschließlich Promotion bereits 1910 mit Bestnoten ab. Damit war der ehrgeizige Mediziner jedoch noch nicht zufrieden.
Deutschland galt damals hinsichtlich medizinischer Lehre und Forschung als fortschrittlichstes Land der Welt. Also schiffte sich Wittenborg 1910 nach Europa ein, um seine Kenntnisse an den führenden medizinischen Universitäten in Berlin und Wien zu vervollständigen.
Nach Ende dieser zusätzlichen Studien kehrte Dr. Wittenborg nach Memphis zurück, allerdings nicht allein. In der alten Heimat hatte er nämlich die deutsche Kapitänstochter Ida Schück kennen gelernt und zur Frau genommen.
Dem Ehepaar August und Ida Wittenborg wurden zwei Kinder geboren: Ida (1912) und Martin (1914).
Dr. Wittenborg bekam bereits zwei Jahre nach der Geburt seines Stammhalters an der University of Memphis eine Professur für Medizin. Dies war übrigens die erste wissenschaftliche Festanstellung in diesem Hause und für die Sparte überhaupt. Bald galt Professor Dr. August H. Wittenborg weit über Tennessee hinaus als anerkannter Experte und hochgeschätzter Lehrer seines Fachs.

Professor August (Hermsmeier) Wittenborg
Professor August (Hermsmeier) Wittenborg
etwa 1910 mit seiner deutschen Frau Ida, geborene Schuck

Da starb 1916 seine über alles geliebte Frau. Plötzlich stand der erst 33-jährige Wissenschaftler mit zwei unmündigen Kindern allein im Leben.
Fotoalben der Familie Hermsmeier-Wittenborg im lippischen Matorf zeigen, wie sich der junge Witwer, neben seiner Hochschultätigkeit, liebevoll und ausdauernd um Tochter und Sohn kümmerte, ihre alltägliche Versorgung und Schulbildung sicherstellte und vor allem jedes Wochenende und die Schulferien nutzte, um mit den Kindern zusammen zu sein und später, als sie heranwuchsen, die Vereinigten Staaten zu bereisen.
Gleichzeitig stürzte sich Professor Wittenborg mit Leidenschaft und Ausdauer in seine Arbeit als Hochschullehrer für Anatomie, und der weitere berufliche Erfolg war nicht aufzuhalten, obwohl der gebürtige Lipper selbst während des ersten Weltkrieges immer noch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß und sich erst 1921 als Amerikaner naturalisieren ließ.
Als es 1918 um die Nachfolge für den damaligen, schwer erkrankten Dekan der medizinischen Fakultät, Herbert Brooks ging, fiel die einstimmige Wahl auf Professor Wittenborg, damals bereits weithin bekannter und angesehener Leiter des Anatomischen Instituts der Universität von Memphis.
Dieses Votum der Leitungsgremien für einen Deutschen wurde zu einer Zeit, als die USA sich im Krieg mit dem überseeischen Kaiserreich befanden, für eigentlich unmöglich und deswegenals Sensation gewertet. Andererseits galt die Wahl des Deutschen aber auch und gerade als überzeugender Vertrauensbeweis für die außerordentlich hohe fachliche und menschliche Wertschätzung, deren sich der in Lippe geborene Wissenschaftler erfreute.
August H. Wittenborg enttäuschte die Verantwortlichen und Studierenden der Universität nicht: Unter seiner Führung gewann die University of Memphis in medizinischen Fachkreisen der USA hinsichtlich Forschung und Lehre einen erstklassigen Ruf.
A. H. Wittenborg Building
Mit dem Neubau des Universitätsgebäudes in den Jahren 1925/1926 setzte sich Professor Wittenborg über seinen späteren Tod im Jahre 1941 hinaus ein bleibendes Denkmal. In dankbarer Erinnerung an seine großen Verdienste um eine fachlich hervorragende Ausbildung von Generationen praktischer Ärzte in diesem Haus zierte man den Eingang der alten Anatomie mit dem eingemeißelten Namen „Wittenborg". Und bei der späteren Erweiterung des riesigen Gebäudekomplexes der medizinischen Fakultät auf dem Universitätskampus gingen seine dankbaren Schüler in der Verehrung ihres „Old Witt" noch einen großen Schritt weiter, indem sie Anatomie und Neurobiologie die Bezeichnung „A. H. Wittenborg Building" gaben - ein Name, der bis heute in großen gotischen Lettern über dem Hauptportal prangt und von den außerordentlich großen Verdiensten des gebürtigen Lippers um die Universität und deren Studenten kündet.
August Wittenborg hat mit seinen Kindern nicht nur die Vereinigten Staaten vielfältig bereist, sondern in den 20er- und 30er-Jahren auch mehrfach Deutschland besucht und dabei der lippischen Heimat seine Aufwartung gemacht.
Bei einer solchen Deutschlandtour ließ Professor Wittenborg seine Tochter Ida für ein Jahr „zu Haus", um ihr in Weimar und Hildesheim eine solide hauswirtschaftliche Ausbildung zu ermöglichen.
Bekam Ida Ferien, wurden diese fast selbstverständlich bei dem von Hannover auf seinen Hof in Matorf zurückgekehrten Großvater August Hermsmeier-Wittenborg verbracht. Mit weitreichenden Folgen für das damals gerade 18 Jahre alte, weltoffene Mädchen aus Amerika.
Der Erbe eines benachbarten landwirtschaftlichen Betriebes, Werner Führing, verliebte sich unsterblich in die hübsche Ida, stieß auf spontane Gegenliebe und hielt in aller Form um ihre Hand an. Dem Vater im fernen Memphis und Großvater in Matorf soll es erst die Sprache verschlagen haben. Letztendlich jedoch willigten beide ein. Glückliches Resultat:
Als Amerikanerin in Lippe geblieben
Ida Wittenborg wurde Frau Führing und damit für das weitere Leben in der Urheimat ihres Vaters eine zufriedene und vom Landleben bis ins hohe Alter begeisterte Bäuerin im lippischen Matorf!
Der Bruder Martin hingegen blieb, wie sein Vater, in der „Neuen Welt", nahm in Baltimore ein Medizinstudium auf und spezialisierte sich dabei auf neuzeitliche Kinderheilkunde.
Ähnlich wie sein Vater, erreichte auch den inzwischen promovierten Mediziner Wittenborg junior schon früh der Ruf an eine Hochschule, in diesem Fall an die „US-Number One", nach Harvard. Hier in Boston erwarb Professor Dr. Martin Wittenborg nicht nur als exzellenter Lehrer und Forscher einen Namen, sondern machte seinem Vater überdies auch als langjähriger Chef der größten Bostoner Kinderklinik alle fachliche Ehre.

Die wesentlichen biographischen Daten zu dieser Auswanderergeschichte verdankt der Autor dem Historiker Gisbert Strotdrees aus Münster.

Aus dem Buch: Friedrich Schütte Westfalen in Amerika

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