Lippische Rose

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Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V.

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Reinhold Niebuhr: „Lehrer der Nation"
Friedel Schütte

Seine Biographen bezeichnen ihn schlichtweg als „Präzeptor Amerikas" - Lehrer der Nation. Kein geistiger Kopf habe im 20. Jahrhundert einen derart großen moralischen Einfluss auf Präsidenten und Regierungen in den Vereinigten Staaten gehabt wie er. Niemand habe US-Administrationen in Washington D. C. derart kritisch die klaffende Lücke zwischen moralischem Anspruch und praktischem Tun vor Augen gehalten wie der Moraltheologe Reinhold Niebuhr (1892-1971), behauptet sein Biograph Richard Wightman Fox.

Prof. Dr. mult. Reinhold
Niebuhr

Kein Kirchenmann hat für den weltweiten ökumenischen Dialog der christlichen Konfessionen im 20. Jahrhundert so viel erreicht wie dieser Sohn eines Einwanderers aus Lippe, der 1948 in Amsterdam erstmals sämtliche Kirchen evangelischen Bekenntnisses, dazu Anglikaner sowie die Vertreter der Orthodoxie, an einen Tisch brachte.
Die Nationalbibliothek in Washington D.C. nennt mehr als 60 VIP-Bücher (very important), Tausende von Streitschriften und Expertisen dieses glänzenden, theologisch-sozial motivierten amerikanischen Denkers des 20. Jahrhunderts. Seine Werke füllen die Regale der berühmtesten amerikanischen und englischen Universitäten, wo er studiert und gelehrt hat, an ihrer Spitze Harvard, Princeton, Yale, New York, Oxford und Cambridge.
Vier US-Präsidenten: Roosevelt, Eisenhower, Truman und Johnson und zahlreichen anderen, zugehörigen amerikanischen Politikern jener Zeit diente er als „moralischer Ratgeber" und unabhängiger Staatskritiker zugleich.
Nach Niebuhrs Überzeugung war der Kampf gegen die Hitlerdiktatur unumgänglich. Die wahllose Bombardierung deutscher und japanischer Städte hingegen sei unmoralisch gewesen. Wegen der seiner Überzeugung nach moralisch ebenfalls nicht vertretbaren, massiven militärischen Intervention der USA in Korea und mit Blick auf zu befürchtende, ähnlich harten amerikanischen Waffeneinsatz in Vietnam trat Niebuhr schließlich unter Protest von seinem Amt als Moralwächter der amerikanischen Nation zurück.

Reinhold Niebuhrs moralische Kritik passt in das 21. Jahrhundert

Unter den zahlreichen aufsehenerregenden Büchern des Querdenkers Reinhold Niebuhr schlug 1932 „Moral Man and Immoral Society" (Moralistischer Mensch und unmoralische Gesellschaft) wie eine Bombe ein. „Eine Interpretation der Christlichen Ethik" (1935), „Christentum und Macht der Politik" (1941), „Kinder des Lichts und Kinder der Dunkelheit" (1944) und „Demokratische Experimente der Vergangenheit und Zukunft" schlugen in dieselbe Kerbe und hielten der Nation kritisch und in einer bis dahin nie gekannten Offenheit den Spiegel vor:
„Unsere größte nationale Schwäche ist vielleicht unsere übertriebene Vorstellung von der Tugendhaftigkeit Amerikas", kritisierte Niebuhr.
„ Wir glauben, Amerika sei einzigartig in der Welt, ... ein Volk von unerreichter Großzügigkeit und Güte. Gott, so nehmen wir an, ist stets auf unserer Seite, und zwar dank einem besonderen Bund, den wir mit dem Allmächtigen geschlossen haben", - Thesen, die (vorausschauend) durchaus auf das Tun und Denken des gegenwärtigen Präsidenten der USA, George W. Bush und seine oft sehr selbstgerecht handelnde Administration bezogen sein könnte und damit auch im 21. Jahrhundert hochaktuell sind.
Der führende amerikanische Politikwissenschaftler Hans Morgenthau (nicht zu verwechseln mit dem Erfinder des so genannten Morgenthau-plans!) bezeichnete Reinhold Niebuhr denn auch bereits 1961 als „den größten lebenden Politikphilosophen Amerikas im 20. Jahrhundert" und „einen Mann von höchster moralischer Kompetenz".
Akademische Plattform Niebuhrs waren vor allem seine herausragenden Lehraufträge für Christliche Sozialethik (1928-1960), u. a. an der Columbia University New York. Aus dieser wissenschaftlich unabhängigen Position heraus wurde er seinerzeit zu einem der maßgebenden Vordenker für das revolutionäre „New-Deal- Programm" Präsident Theodore Roosevelts in den 30er-Jahren.
Zeitweilig und aufgrund seiner praktischen sozialen Erfahrungen als Pfarrer in Arbeitergemeinden Detroits neigte Reinhold Niebuhr zum linken Flügel der Gesellschaft, ohne sich jedoch jemals mit den Kommunisten zu arrangieren. So gründete er u. a. eine Liberal-Sozialistische Partei der USA und zog dafür kurzzeitig sogar in das Landesparlament ein.

Vater ging 1881 von Lippe nach Amerika

Schon der Vater, Gustav Niebuhr vom traditionsreichen lippischen Vollmeierhof Niebuhr in Lage-Hardissen Nr. 6, war Theologe. Gustav Niebuhr, geboren am 28. Januar 1863, hatte seine Heimat zusammen mit dem drei Jahre jüngeren Bruder Louis, nach einem Streit mit dem herrischen Vater, im Frühjahr 1881 per Schiff „Weser" Richtung Illinois verlassen.
Louis Niebuhr zog weiter nach Nebraska, während Gustav auf der Farm seiner Cousine Caroline Hummermeier, geborene Lüttmann, und deren Mann Wilhelm Obdach fand. Diese Verwandten finanzierten dem hochbegabten lippischen Abiturienten Gustav Niebuhr denn auch sein Theologiestudium am evangelischen Eden-Seminar in St. Louis. Gerade ordiniert, zog der 22-Jährige quer über den Kontinent bis San Francisco. Mutig übernahm er die soeben von deutschen Einwanderern gegründete ev. St. Johannisgemeinde auf dem Signal Hill.

Pastor Gustav Niebuhr, lippischer
Auswanderer vom Hof Niebuhr in
Hardissen und Vater des berühmten
Gelehrten und US-Präsidentenberaters
Reinhold Niebuhr. Eine Aufnahme von
1910

Verheiratet mit der Tochter eines dortigen Missionars, folgte Gustav Niebuhr zunächst einem Ruf nach Wright City, Missouri, dann als reisender Prediger in St. Charles, Missouri, schließlich in das Pfarramt an der St. Johannisgemeinde in Lincoln, Illinois. Hier gestaltete Gustav Niebuhr von 1902 bis zu seinem Tode im Jahre 1913 nicht nur ein blühendes kirchliches und schulisches Leben, sondern gab seiner evangelisch-reformierten Kirchengemeinschaft auch als Synodaler und zeitweiliger Tagungspräsident für ganz Amerika eine dauerhafte Verfassung.

Reinhold Niebuhrs bittere Erfahrungen als Prediger für die Arbeiter von Detroit

Reinhold Niebuhr erblickte am 21. Juni 1892, sein Bruder Helmut Richard zwei Jahre später das Licht der Welt. Er studierte Theologie am Elmhurst College und an der Yale University. 1915-1928 war er Pfarrer in Detroit und setzte während dieser Zeit nebenbei seine Studien insbesondere in Geisteswissenschaften fort. Die harte Realität des Arbeiterdaseins in Detroit und eine Reise 1923 nach EuSchwächen und Fehlern, die dem Menschen im Wesentlichen anhaften; theologisch bezeichnet man das die Erbsünde."

Stammhof der Familie Niebuhr in Lage-Hardissen, Lippe:
Hier wurde Gustav Niebuhr geboren und verbrachte er seine Jugend bis zum Abitur in Lemgo

Nicht nur Moral predigen, auch moralisch leben und handeln! lautete das Credo des bald an die führenden amerikanischen Universitäten berufenen Redners und Lehrers Professor Dr. Reinhold Niebuhr, den Hochschulen und Staat als „Lehrer Amerikas", trotz seiner oft harschen Kritik am „American Way of Life" über die Jahre mit hohen akademischen und nationalen Auszeichnungen ehrten.
„Niebuhr war kein Stubengelehrter, vielmehr ein mutiger Vordenker, der in die Politik eingriff und Amerika vor Überheblichkeit warnte. Ein Christ, der christliches Handeln im Alltag der Nation glaubwürdiger machen wollte", heißt es in einer Würdigung Niebuhrschen Denkens und Wirkens nach dessen Tod am 1. Juni 1971 in Stockbridge, Massachusetts.
Der Bruder Reinhold Niebuhrs, Richard, studierte gleichfalls Theologie, wurde Pfarrer und ein bekannter Moraltheologe von hohem Anspruch.
In einem Dutzend Bücher befasste er sich, ebenso wie sein älterer Bruder Reinhold, mit der großen Kluft zwischen moralischem Anspruch und Wirklichkeit im politischen Leben der USA. Besonders skeptisch betrachtete Richard Niebuhr das in der breiten amerikanischen Öffentlichkeit weitgehend unkritisch dargestellte „Kingdom of God in America" (Gotteskönigreich Amerika).
Trotz seiner beachtlichen theologischen und philosophischen Arbeiten konnte Richard Niebuhr niemals auch nur annähernd an die Bedeutung seines weltberühmten „großen Bruders" anknüpfen.

***

Dank sagt der Autor für die Bereitstellung von Informationen, Daten und Schriften der National Library, Washington D.C., der Texas A&M-University, Gisbert Strotdrees (Landwirtschafts-Verlag, Münster) und besonders Dipl.-Volkswirt Klaus Niebuhr in Lage-Hardissen für freundliche Einsicht in den bis 1410 zurückführenden Stammbaum der Familie Niebuhr (1410: „Niggebuer zu Herdessen")

Aus dem Buch Westfalen in Amerika

 

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